

Lamborghini Temerario – Der Stier 2.0
Lamborghini, das war früher eine sehr extravagante Marke. Mit lauten und auffälligen Kreationen, deren Image Jeremy Clarkson einst sehr passend formulierte: «Eher was für Rod, als für Jackie Stewart.»
In Sant’Agata möchte man dieses schrille Image ablegen. Mehr Sein als Schein. Es sind auch immer mehr Tech-Millionäre und seriöse Geschäftsleute, die sich einen Lamborghini wünschen – und weniger Popstars. Man will den Kundenerwartungen gerecht werden, ohne die eigenen Grundwerte abzulegen.
Grundwerte? Gemeint sind vor allem das spacige Design, die grellen Farben und natürlich der heulende V10.
Der Käufer von heute erwartet erstklassige Leistung, präzises Handling, schnelle Rundenzeiten und makellose Qualität. Besonders unter Audis Regie legte die Marke in diesen Punkten deutlich zu: Beispiel gefällig? Gallardo und auch Huracán. Deren Nachfolger will mehr. Der Lamborghini Temerario will die genannten Grundwerte beibehalten, jedoch mit technologischem Fortschritt ergänzen und einen grossen Schritt in Richtung elektrische Zukunft machen.
Der Nerd
Der Vortrag darüber, wie ihm das gelingt, würde reichlich Stoff für eine Doktorarbeit bieten. Der Temerario setzt wie der grössere Revuelto auf eine elektrische Frontachse mit zwei E-Motoren und einen dritten Motor (P1) an der Kurbelwelle. Jeder Antrieb leistet theoretisch 150 PS, wovon sich maximal 120 PS gleichzeitig abrufen lassen. Gespeist werden die E-Antriebe von einer 3,8-kWh-Batterie im «Kardantunnel», die sich entweder an der Wallbox laden lässt oder vom hinter den Sitzen platzierten 4,0-Liter-Twin-Turbo-V8 versorgt wird. Dieser leistet 588 kW/800 PS und treibt über eine Achtgang-Doppelkupplung die Hinterräder an.



Rein elektrisches Fahren ist möglich – bis zu sieben Kilometer, ausschliesslich über die Frontachse. Die Elektrifizierung dient hier in erster Linie der Performance: Der E-Motor an der Kurbelwelle stopft das Turboloch, die Frontmotoren liefern Traktion und Torque-Vectoring ohne Differenziale. Jedes Rad lässt sich präzise ansteuern – und hier kommt die Elektronik LDVI 2.0 ins Spiel. Sie analysiert Gas, Lenkung, Fahrzeuglage, Fahrmodus und äussere Bedingungen und verteilt die Kräfte stufenlos zwischen Stabilität beim Beschleunigen und Agilität beim Übersteuern auf der Rennstrecke. Und dort durften wir den Stier an den Hörnern packen: willkommen auf dem Autódromo do Estoril.
Der Rennfahrer
Estoril ist eine 4,3 Kilometer kurze und schmale Strecke mit 13 Kurven. Anspruchsvoll für Auto und Fahrer, doch für den Temerario kein Problem. Mit einer Systemleistung von 677 kW/920 PS beschleunigt er in unter drei Sekunden auf 100 km/h und in 7,3 Sekunden auf 200. Am Ende der Start-Ziel-Geraden kratzt er an der 300-km/h-Marke, bevor die Carbon-Keramik-Bremsen ihn mit über 1,4-facher Erdbeschleunigung wieder einfangen. Fading? Selbst nach zehn Runden nicht im Ansatz. Auf trockenem Asphalt spürt der Fahrer den endlosen Grip an beiden Achsen und erfreut sich am Herausbeschleunigen wie auf Schienen. Die eigens für Lamborghini entwickelten Bridgestone-Semislicks bieten enormen Seitenhalt und lassen die 1,9 Tonnen des «kleinen» Supersportwagens scheinbar spurlos verschwinden.


Der Businessman
Der Lamborghini Temerario legt in zwei Bereichen besonders massiv zu: Leistung und Preis. Kratzten die Vorgänger noch an der 570- bzw. 640-PS-Marke, übertrifft das jüngste Familienmitglied die 900-PS-Schallmauer. Waren der Gallardo und der Huracán je nach Modell inflationsbereinigt unter einer Viertelmillion zu haben, beginnt der Neue mit einem Basispreis von über 310 000 Franken. Ein für Lamborghini höchst lukratives Geschäftsmodell – schliesslich verkauft die Marke heute jährlich mehr Fahrzeuge als in ihrer gesamten Geschichte vor der Audi-Übernahme. Ein klare Win-win-Situation für alle, könnte man sagen.
Bilder: Lamborghini

