Test

Polestar 4 - Golden Boy?

Einen Polestar 4 erkennt man sofort – oder spätestens, wenn er vorbeifährt. Dem SUV-Limousinen-Coupé fehlt schliesslich eine gläserne Heckscheibe. Doch wie kommt man im Alltag ohne den rückseitigen Durchblick zurecht? Und wie mit dem ganzen Rest des Autos?

Veröffentlicht am 03.03.2025

Ist dieses Auto nicht ein bisschen gar rücksichtslos? Keine Sorge, so ganz lässt man den rückwärtigen Verkehr im Polestar 4 seines auffälligen Designmerkmals wegen nicht ausser Acht. Man hat dem Fahrzeug selbstredend einen digitalen Innenspiegel spendiert. Diese schon oft gesehene, aber in diesem Modell für einmal wirklich nötige Lösung erfolgte im Streben nach Design, Funktionalität und Innovation – sagt der Hersteller. Wir lassen uns wie immer nix erzählen, sondern testen das Ergebnis lieber selbst. Nicht bei einer Kaffeefahrt ums Quartier, sondern im Alltag mit Kind, Kegel und was sonst noch so dazugehört.

Der Polestar 4 ist weder ein klassisches SUV noch eine reine Limousine, sondern bewegt sich irgendwo dazwischen. Ein skandinavischer Crossover mit imposanten Dimensionen und einer aerodynamischen Silhouette, die etwas an eine aufgebockte Fastback-Limousine erinnert. Knapp unter fünf Meter Länge, zwei Meter Breite und anderthalb Meter Höhe sind stattliche Masse. Dazu kommen ein langer Radstand von drei Metern und beim Testfahrzeug standesgemässe 22-Zoll-Felgen. Mit der dadurch entstandenen Wendigkeit eines Kreuzfahrtschiffs kann es besonders in engen Parkhäusern schweisstreibend und teuer werden. Man sitzt zwar erhöht, doch ohne dadurch einen signifikant besseren Überblick zu erhalten. Typisch SUV eben.

Rückblickend besser lösbar


Der Polestar 4 verzichtet also auch noch vollständig auf eine Heckscheibe. Dieser radikale Designschritt wurde gewählt, um einerseits das laut Polestar «elegante, abfallende Dachprofil» zu ermöglichen, ohne die Kopffreiheit der Fondpassagiere einzuschränken, aber natürlich auch, um dem Wagen ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zu verleihen. Damit das geht, überträgt eine schmutz- und regentropfenresistente HD-Kamera ein gestochen scharfes Bild auf das Display des «Innenspiegels». 

Diese Lösung sorgt zwar für ein breites Sichtfeld nach hinten und kompensiert die mangelnde Übersicht durch das fehlende Fenster, jedoch erfordert sie eine gewisse Eingewöhnung, da sich die Fokussierung auf den Bildschirm deutlich von dem eines klassischen Spiegels unterscheidet. Abstände lassen sich eben nicht mehr «mit einem einzigen Blick» einschätzen und das menschliche Auge respektive Gehirn braucht deutlich mehr Zeit, um die gesehenen Informationen zu verarbeiten und zu interpretieren. Besonders nachts hat dies aufgrund der zusätzlichen Dimmung den Effekt, dass der Blick nach hinten öfter einmal über die seitlichen Rückspiegel erfolgt und der neumodische Innenspiegel völlig links liegen gelassen wird. Das Gleiche gilt bei starkem Regen oder Schneefall. Die Kamera bleibt zwar wie versprochen sauber, sie tut sich aber schwer mit dem ganzen Tropfen- oder Flockenwirrwarr hinter dem Auto und das Bild wird etwas unscharf. 

So bietet die Lösung ein futuristisches, aber nicht ganz praktisches Fahrerlebnis. Sollten bei Ihnen zudem Kinder auf der Rücksitzbank mitfahren, müssen Sie sich noch auf ein weiteres Problem einstellen. Der kurze Blick in den Innenspiegel, um nach dem Nachwuchs zu sehen – also ob er schläft oder gerade die Butterbrezel am Sitzleder abschmiert – bringt nicht viel. Sie werden keine Kinder sehen, weil die Kamera nur das Bild von draussen nach innen überträgt. Dafür kann man aber einen kleinen Hebel unterhalb des Displays betätigen, um die Kamera zu deaktivieren und anschliessend über die klassische Spiegelreflexion nach den Kindern zu schauen. Sie merken es vielleicht schon: Durch diese Umstellung wird man von einem aktiven eher zu einem passiven Verkehrsteilnehmer. Liebe Pole­star-Ingenieure, wenn man doch schon einen digitalen Innenspiegel verwendet, bietet sich hier doch ebenfalls eine digitale Lösung des Problems an? Also eine Kamera, die auch auf die Rückbank zündet. Gerne auch in Splitview. 

Lichtschutzfaktor null


Was dem Polestar 4 an Glas bei der Heckscheibe fehlt, hat er beim äusserst grossen Panoramaglasdach erhalten. Die stabilitätsfördernde Dachquerstrebe, die sich normalerweise im Bereich des Fonds befindet, wurde dazu weiter nach hinten verlegt – eben dorthin, wo sonst die Heckscheibe ist. Das Dach bietet zwar einen famosen Ausblick, aber halt dorthin, wo man es für die Verkehrsteilnahme eher nicht braucht. Doch es lässt auf jeden Fall erstaunlich viel Licht ins Auto. Leider verlangt Polestar rund 2000 Franken ­Aufpreis, wenn es über Flüssigkeitskristalle elektrisch abgedimmt werden soll. Eine grosse, aber wichtige Investition, denn ansonsten brennt den Insassen die Sonne gehörig auf den Helm. Dafür wirkt der geräumige Innenraum auch durch dieses riesige Panoramadach noch grosszügiger, regelrecht luftig. Besonders im Fond. Die Passagiere vermissen die Sicht nach hinten ja sowieso nicht und in Reihe zwei kann man die elektrisch einstellbare Lehne um sieben Grad neigen und den freien Blick in den Himmel geniessen. 

Natürlich setzt Polestar im Interieur wie das Mutterhaus Volvo auf nachhaltige Materialien wie recyceltes PET für die Sitzpolsterung und tierschutzkonformes Nappaleder für den Bezug. Der Kofferraum ist mit rund 530 Litern ausreichend bemessen und lässt sich mit umgeklappter Sitzbank noch auf über 1500 Liter erweitern. Nur die geringe Höhe des Laderaums stört etwas. Dafür gefällt das Fach unter dem Ladeboden. Wer noch mehr Volumen braucht, hat mit einem kleinen Frunk vorne immer noch Platz für Kabelsalat und Ähnliches.

Standardtechnologie


Ein derart ausgefallenes Auto wie der Polestar 4 geht doch sicher auch sonst ganz andere Wege? Geht er nicht. Wie gewohnt setzen die Skandinavier (oder je nach Perspektive die Chinesen) auch im Polestar 4 auf ein Google-basiertes Betriebssystem, das über einen 15,4-Zoll-Bildschirm gesteuert wird. Das System läuft flüssig, doch man braucht eine kurze Eingewöhnungszeit, bis sich alle Funktionen zielgenau bedienen lassen. Ein circa zehn Zoll messendes Display hinter dem Lenkrad zeigt Geschwindigkeit, Batteriestand und Reichweite an, während das grosse Head-up-Display alles Wichtige direkt auf die Windschutzscheibe projiziert.

Über das Fahrverhalten gibt es ebenfalls wenig Weltbewegendes zu vermelden. Der Polestar 4 bietet ein agiles und performantes Fahrerlebnis, wenn auch stets eine komfortable Grundausrichtung durchschimmert. Das von uns getestete Fahrzeug war zudem mit adaptiven Stossdämpfern ausgestattet. Mit dem dreistufig einstellbaren Fahrwerk lassen sich die Dämpfer noch mehr straffen, doch bleibt das Fahrzeug dem Komfort stets näher verbunden als dem Sport. Enge und kurvige Strecken erfordern viel Kurbelarbeit am Volant, das Fahrzeug folgt dafür gutmütig der vorgegebenen Linie. Allgemein kann man die Lenkung als ausreichend direkt beschreiben, doch mit der gedämpften Rückmeldung hatten wir so unsere Mühe. 

Deutlich angenehmer war da der ruhige und stabile Geradeauslauf. Besonders bei höheren Geschwindigkeiten auf der Autobahn reichen feine Korrekturen aus, um einen flüssigen und entspannten Fahrfluss zu erzeugen – bis die Elektronik eingreift. 

Assistentenbeben


Die Fahrsicherheitsassistenten des Polestar 4 sind sehr aufmerksam. So aufmerksam, dass die meisten in unseren Breitengraden sie wohl vor Fahrtantritt deaktivieren. Sonst pfuscht etwa der Spurhalteassistent nicht nur in die Fahrlinie hi­nein, sondern tut dies mit einer solchen Vehemenz, dass Fahrzeug wie Insassen in Unruhe gebracht werden. Spätestens die daraufhin erscheinende Aufforderung, sich bitte auf das Fahren zu konzentrieren, wird dann zum Anlass genommen, Assistenten und Aufpasser in die Pause zu schicken. Fairerweise muss man an dieser Stelle aber betonen: Dass der Polestar 4 gerne zum Schweigen gebracht wird, ist in der Welt des modernen Automobils kein Alleinstellungsmerkmal. Genauso wenig wie sein chronisch unpräziser Tempowarner. 

Der Geschwindigkeitsverwechsler (mit immerhin dezentem und angenehmem Warnton) liegt in den allermeisten Fällen daneben und auch der einstellbare Abstand zum Vordermann des adaptiven Tempomaten ist grundsätzlich sehr weitsichtiger Natur. Beim Ausparken haut der Polestar gerne einmal selbst den Anker rein, auch wenn ein sich näherndes Fahrzeug gerade erst auf den Parkplatz eingebogen ist. Ein leises Bravo haben jedoch die Bremsen verdient. Diese packen recht kräftig zu und zeigen keinerlei Fading-Erscheinungen, wenn der 2,4-Tonnen-Tarnkappenstromer wiederholt verzögert wird. Die gemessenen 100-auf-0-Bremswege von um die 45 Meter vermögen zwar nicht zu begeistern, sind aber mit den schwierigen Bedingungen (kalt, feucht und natürlich Winterreifen) zu rechtfertigen. 

Leistungsgerecht


In Anbetracht der Fahrleistungen werden standfeste Bremsen zwingend benötigt. Die getestete Dual-Motor-Version des Polestar 4 leistet stolze 400 kW/544 PS und erledigt den Sprint aus dem Stand auf 100 km/h in gemessenen vier Sekunden. Man katapultiert sich also auch sehr schnell in den teuren Bereich des Bussgeldkatalogs. Zügige Überholmanöver auf Landstrassen gehören definitiv zu den grossen Stärken des Polestar 4. Ein Testverbrauch von 23,0 kWh/100 km erscheint zwar hoch, lässt sich aber mit zahlreichen Zwischenspurts und winterlichen Temperaturen rechtfertigen. Auf der brav gefahrenen ai-Runde bleibt der Polestar 4 mit 19,6 kWh Durchschnittsverbrauch jedenfalls unter der magischen 20-kWh-Marke, was für Fahrzeuggrösse und Jahreszeit eine gute Leistung ist. 

Wer die Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h auskostet, sollte dann aber natürlich nicht auf die maximale Reichweite von 590 Kilometern nach WLTP bestehen. In der Praxis waren Reichweiten um die 450 Kilometer auch bei forscher Fahrweise kein sonderliches Pro­blem. Irgendwann muss aber auch der grosse 100-kWh-Akku (94 kWh nutzbar) des Polestar 4 an den Stecker. Dort ist er schneller als die meisten anderen, zumindest bei Wechselstrom. Eine taugliche Wallbox vorausgesetzt kann er am AC-Lader nämlich Strom mit 22 kW ziehen. Etwas weniger ambitioniert sieht es mit Gleichstrom aus, am Schnelllader liegen im Idealfall 200 kW drin. Für die 400-Volt-Architektur mag das noch ganz gut sein, doch wer die Fühler ernsthaft in die Oberklasse streckt, kommt heute kaum noch an einer 800-Volt-Plattform vorbei. Die schafft dann auch bei Kälte mehr als die gemessenen 136 kW.

Mit einem Einstiegspreis von 62 900 Franken für die Single-Motor-Basis und 70 900 Franken für die getestete Dual-Motor-Version mit Allradantrieb positioniert sich der Polestar 4 mitten im Premiumsegment. Er konkurriert mit Limousinen wie dem VW ID.7 und dem Hyundai Ioniq 6 oder den SUVs Audi Q6 e-tron, BMW iX3 und Tesla Model Y. Die schauen allesamt nicht ganz so innovativ aus wie der Polestar 4 und mit seinen komfortabel-dynamischen Fahreigenschaften besitzt er eine ganz eigene Mischung. Ob das in Sachen Verkaufszahlen für die Goldmedaille oder überhaupt eine gute Platzierung im Konkurrenzkampf mit den Mitstreitern reicht, entscheiden wie so oft die Kunden. 

 

Text: GAT
Fotos: Toni Bader

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