100 Jahre Giovanni Michelotti

Triumph Ginevra – Englishman in Torino

So schön könnte der Triumph TR6 aussehen: Giovanni Michelotti, der schon den TR4/5 gezeichnet hatte, präsentierte 1968 in Genf diesen Prototyp für ein Nachfolgemodell. Der Ginevra ist immer noch in der Schweiz beheimatet.

Veröffentlicht am 25.12.2021

Giovanni Michelotti ist auf der britischen Insel sehr erfolgreich. So schuf er beispielsweise für Triumph eine ganze Reihe von Modellen wie etwa den Herald, die Roadster Spitfire, TR4 und dessen Weiterentwicklung TR5, den Stag oder die Limousinen 1300 und 2500. Als Michelotti den Stag 1968 fertig hat, will er ihn natürlich auf seinem Stand in Genf präsentieren. Doch die Triumph-Oberen legen ihr Veto ein. Der Stag soll auf ihrem eigenen Stand Premiere feiern, nicht beim Designer. Da ist guter Rat teuer. Schnell muss ein Exponat her, der Stand in Genf ist gebucht.


Fury als Vorbild

Die Zeit drängt extrem. Michelotti besinnt sich daher auf seine Roadster-Studie namens Fury, die 1964 auf Basis des Triumph 2000 entstanden war. Der Fury sollte mit eleganter, selbsttragender Karosserie eine modernere Alternative zu Spitfire und TR4 bilden. Doch leider blieb es bei einem Prototyp, der übrigens bis dato existiert und von einem Enthusiasten gefahren wird. Weil der Fury eine zweite Chance bekommen soll und in der kurzen Zeit nicht die gesamte Designentwicklung bei null beginnen kann, dient er als stilistische Vorlage für das Genfer Konzeptfahrzeug.

Triumph schickt ein Chassis inklusive Motor und Getriebe zwecks Aufbaus einer Stylingstudie. Die Nummer X 760 deutet darauf hin, dass die Briten kein Serien-, sondern ein Sonderfahrgestell nach Turin liefern. Aber dazu später mehr. In unglaublichen 14 Tagen (und Nächten!) dengeln die Turiner Blechkünstler eine formvollendete, elegante Karosserie und präsentieren sie am Genfer Salon 1968.

So selbsterklärend ist es allerdings nicht, was Michelotti mit diesem Fahrzeug bezweckt. Gerne hätte er den TR6 eingekleidet. Allerdings wird Karmann Osnabrück mit dem Styling betraut, das 1969 auf dem Autosalon Brüssel enthüllt wird. Im Frühling 1968 ist der TR6-Zug für Michelotti zwar abgefahren. Aber logisch, dass er die Arena nicht kampflos verlassen und sich für weitere Projekte in Position bringen will.


Blinken mit Handzeichen

Giovanni Michelotti erklärt damals, dass der Ginevra ein auf den italienischen Geschmack zugeschnittenes englisches Auto darstelle. Daher seien die Scheinwerfer niedriger angesetzt worden. Für die Zulassung in Grossbritannien seien sie sogar zu niedrig, die Gesetze in Italien – und der Schweiz – würden jedoch erfüllt werden. Michelotti möchte auch, dass man die Ellenbogen lässig aus dem Auto strecken und die traditionellen Handzeichen für Richtungsänderungen geben kann. Das gilt in Italien damals als viel cooler als der profane Blinker. Die Windschutzscheibe steht flacher als bei den anderen TR-Modellen, der Tank ist um zehn Zentimeter weiter nach vorn gerückt, um das Kofferraumvolumen zu erhöhen. Zudem gerät der Ginevra volle zwölf Zentimeter länger als der TR4, weil die Front gestreckt wurde.

Und unter dieser Front tut sich auch etwas höchst Interessantes, denn wie oben beschrieben senden die Triumph-Leute kein normales Fahrgestell nach Turin. Stattdessen ist im X 760 ein besonderer Motor eingebaut. Es handelt sich dabei um den Zweiliter-Reihensechszylinder aus dem Triumph GT6, jedoch mit Einspritzung. Die gab es dort nie serienmässig. Der Zweiliter war stets mit Vergaser ausgerüstet und leistete bis zu 91 PS, während der Ginevra mit 122 PS angegeben wird. 1967 bekommt der Reihensechser endlich eine mechanische Lucas-Einspritzanlage, allerdings dank neuer Kurbelwelle vergrössert auf
2,5 Liter Hubraum. Das Auto heisst TR5 statt TR4.

Der Ginevra wird am Salon stark beachtet, und so mancher wird es später bedauern, dass der TR6, der knapp ein Jahr später kommt, nicht von Michelotti eingekleidet ist. Michelotti fährt den Prototyp von seinem namensgebenden Ausstellungsort Genf (italienisch Ginevra) wieder nach Hause und nutzt ihn fortan als persönlichen Dienstwagen.

 

Zurück in der Schweiz

Der mittlerweile pensionierte Werner Bärtschi ist in Fachkreisen kein Unbekannter, denn seit 1981 hat er bei Emil Frey gewirkt, namentlich auch für die englischen unter den vielen Marken, die durch Frey importiert werden wie Austin, Rover, MG, Jaguar oder Mini. Die unzähligen Geschäftsreisen und der persönliche Einblick in die britische Autoindustrie machen Werner Bärtschi zum Englandfan. 

1985 kommt beim noch unverheirateten Bärtschi und seiner zukünftigen Frau der Wunsch nach einem offenen Briten auf. Die frisch eröffnete Oldtimergalerie Toffen von Reinhard Schmidlin hat einen Austin Healey, ein Jaguar E Cabriolet und einen unbekannten Triumph im Angebot. «Im Exoten sah ich ein ganz anderes Potenzial als in einem gängigen Oldtimer», sagt Werner Bärtschi. «Mich reizte er unter anderem auch, weil ich eine längerfristige Investition suchte. Ich wollte unser Erspartes ausfahren, daher kamen Aktien für mich nicht infrage …»

An jenem Samstag wird gleich eine Baranzahlung geleistet, das Ganze per Fax bestätigt und am Montag drauf nimmt sich Bärtschi frei und holt  – «Bahnbillett Toffen einfach» – mit den Safenwiler Werkstattnummern unter dem Arm das Auto ab. «Nach einer ersten Probefahrt vor Ort missfielen mir allerdings der Motorklang und die Federung, was zu Preisverhandlungen führte. Es war offensichtlich, dass der Triumph Nachholbedarf hatte», erläutert Bärtschi. Die Oldtimergalerie kommt einem willigen Käufer gern entgegen. Erst einige Monate später wird sowohl dem Verkäufer als auch dem Käufer bewusst, um welche Rarität es sich hier handelt. Für unsere jüngeren Leser: Das über alles und jeden informierte Internetzeitalter existierte noch nicht. Man konnte also nicht einfach «Triumph Prototyp» googeln, sondern musste gezielt Fachbücher und -zeitschriften durchwühlen, um sich Stück für Stück an die Wahrheit heranzutasten. Damals gab es immer wieder "vergessene" Autos, die unter dem Radar durchtauchten: heute fast undenkbar.

Selbst als es Nachwuchs im Hause Bärtschi gibt, wird der Ginevra stets ausgiebig und selbst im Winter mit Wechselnummern gefahren, mal mit zwei Kindern auf dem Beifahrersitz oder mit Hund auf der Mittelkonsole. Mit der Zeit kommen immer mehr Details zur Geschichte zusammen. Ein Motorjournalist gibt schliesslich den Hinweis, dass sich in Turin Ende der 1980er-Jahre eine Michelotti-Vereinigung gegründet habe, die sicher mehr wüsste. Dort lernt Bärtschi viele Exotensammler aus aller Welt kennen, die Michelotti-Einzelstücke bewegen. Bekanntermassen war der Turiner Carrossier sehr fleissig, und viele seiner Autos haben überlebt.

Italienisch und doch sehr britisch

Der drehmomentstarke Reihensechszylinder hat mit den 1110 Kilogramm Leergewicht leichtes Spiel. Natürlich sind Federung, Lenkung, Sitzposition oder Schaltung sehr britisch, also hart und herzlich, aber exakt deswegen kauft man ja einen Engländer. Dazu noch der betörende Klang: ein echtes Traumauto, dem man eine grosse Karriere als formschöne Alternative zu Spitfire, TR4/5 und Stag gewünscht hätte. Aktuell hat das Auto nur rund 117 000 Kilometer auf dem Buckel. Was der Ginevra heute kosten würde, ist eine sinnlose Frage, denn er wird in der Familie bleiben. Vermutlich dürfte er an einer Auktion einen niedrigen sechstelligen Betrag bringen, in den USA oder in Japan sogar noch einiges mehr.

Der böse Stein

Und dann war da noch die Geschichte mit dem Stein. Werner Bärtschi war vor ein paar Jahren auf der Rückfahrt vom British Car Meeting in Morges, als ein Stein aus dem Zwillingsrad eines Lieferwagens die Frontscheibe mit voller Wucht traf. Er durchschlug sie und erwischte Bärtschi am Kopf. Glücklicherweise hatte er im entscheidenen Moment den Blick zur Seite gelenkt, sonst hätte es wohl böse geendet. Er spürte das Blut herunterrinnen, blickte über die zerstörte Scheibe nach vorn und rollte auf dem Pannenstreifen zur nächsten Tankstelle. Er verarztete sich notdürftig, schlug die restlichen Scherben aus dem Fensterrahmen, wischte alles zusammen, um sich danach auf Weg gen Heimat zu machen.

Werner Bärtschi trägt zwar noch immer Narben im Gesicht, aber ein anderes Problem heilte nicht so schnell: Nicht einmal Edgardo Michelotti konnte ausfindig machen, welche Frontscheibe sein Vater damals für den Ginevra verwendet hatte. Alle Möglichkeiten wurden durchprobiert. Schliesslich musste Glas Trösch eine Scheibe anhand eines eigens gehämmerten Aluminiumpositivs als Einzelstück anfertigen. Kostenpunkt: 11'500 Franken. Jetzt hat Bärtschi noch zwei Ersatzscheiben in seiner Garage – man weiss ja nie, denn der Ginevra ist immer unterwegs und oft an Treffen und Rallyes zu sehen. Kürzlich fuhr er auf eigener Achse nach Turin zur 100-Jahr-Ausstellung von Michelotti, wo er als ein Eröffnungsxponat zu bewundern war. Geschont wird der Wagen nicht. Das freut Autoliebhaber natürlich, denn wann kann man schon den originalen Michelotti-Protoyp vom Genfer Salon 1968 in freier Wildbahn sehen ...?


Der Ginevra ist im "Registro Storico Michelotti" als Nr. 054 registriert:

Text: Stefan Fritschi
Fotos: Vesa Eskola
Location: Flugplatz Bleienbach
 

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