
Quattro der Zukunft
Dieses Jahr feiern die Ingolstädter 40 Jahre Quattro. Dazu passend stellen sie mit dem e-tron S einen Allradler auf die Räder, der den Quattro-Antrieb mit drei E-Motoren, neuartigem elektrischem Torque Vectoring sowie über 500 PS würdig in das Elektro-Zeitalter transportiert.
Ein älterer Herr mit Halbglatze nickt mir freundlich zu, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nehme. Moment mal, den kennt man doch? Noch bevor ich «Stig Blomqvist» sagen kann, zieht der Rallye-Weltmeister von 1984 mit dem e-tron-S-Prototypen durch. Beinahe augenblicklich katapultiert es das 2,6 Tonnen schwere SUV auf der Startgeraden des Audi Driving Experience Center Neuburg (D) aus den Startlöchern.
Rollende Kanonenkugel: 503 PS und 973 Nm bringt der Stromer
Die Ingolstädter haben dem e-tron im «S» noch einmal richtig Punch spendiert: Fast 100 PS mehr als der e-tron 55 leistet er. Im Boostbetrieb sind es 503 PS und irrwitzige 973 Nm. In 4,5 Sekunden soll der Audi von 0 auf 100 km/h beschleunigen. Ich glaube es sofort, so spontan wie das Dickschiff losmarschiert. Der «S», den es noch in diesem Jahr auch als Sportback geben wird, kann aber nicht nur geradeaus. Wie am unsichtbaren Band gezogen, slidet das SUV im sanften Drift aus der Kurve. Stig korrigiert leicht am Lenkrad und verzieht dabei keine Miene. «That was easy», meint er nur gelassen, als wir einige Drifts später die Zielgerade durchfahren. Weder er noch der e-tron S kamen im Entferntesten in den Grenzbereich, so viel ist klar. Jetzt will ich! Doch bevor ich selbst ans Steuer darf, erklären mir die Audi-Techniker, wie sie das Schwergewicht so leichtfüssig machen konnten.
Allradler mit drei Motoren
Herzstück des e-tron S ist die elektronische Fahrwerkplattform, die identisch mit der des normalen e-tron ist. Auch die unter der Fahrgastzelle positionierte 95-kWh-Batterie bleibt die gleiche. Hauptunterschied: Der grosse elektrische Heckmotor aus dem e-tron 55 wandert nach vorn, das kleinere E-Aggregat nach hinten. Letzteres bekommt zusätzlich einen baugleichen Zwilling zur Seite gestellt. Gemeinsam leisten die beiden im Boost 264 kW, der vordere Motor bringt es auf 124 kW – im Boost auf 150 kW. Besonderheit: Die Heckmotoren, die Rücken an Rücken angeordnet sind, teilen sich zwar einen Kühlkreislauf, die Kraftübertragung erfolgt aber ohne mechanisches Differenzial. Jeder E-Motor wird stattdessen von einer Leistungselektronik via Planetengetriebe direkt mit Drehstrom versorgt. Der E-Quattro mit elektrischem Torque Vectoring ermöglicht es, die Antriebskraft innert fünf Millisekunden zwischen den Hinterrädern zu verteilen.
Beschleunigt der Fahrer sportlich aus der Kurve heraus, teilt der E-Motor dem kurvenäusseren Hinterrad bis zu 220 Nm mehr als dem kurven-inneren Rad zu. Rechnet man die unterschiedliche Übersetzung ein, ergibt sich eine Differenz von bis zu 2100 Nm zwischen den Hinterrädern. Das so erzeugte Giermoment sorgt für besseres Einlenkverhalten und höhere Kurvengeschwindigkeiten. Ausserdem muss man weniger gegenlenken, um nicht abzufliegen.
Bitte nicht übergeben!
Klingt alles höchst plausibel, aber ich will es natürlich selbst erfahren: «Jetzt voll aufs Gas!», kommandiert der Instruktor am Scheitelpunkt. Ich zögere kurz, dann leiste ich Folge. Da das Audi Drive Select auf «Sport» und ESC auf «off» steht, schlägt das Heck diesmal deutlich stärker aus als zuvor. Es genügt aber, die Räder wieder gerade zu stellen, um das SUV einzufangen. Das Spiel macht richtig Laune: Gas geben, quergehen, gegenlenken, Gas geben – es ist tatsächlich kinderleicht. Und kein einziges Mal tanzt der e-tron dabei aus der Reihe.
«Wir wollen für Kunden Sportlichkeit erlebbar machen», erklärt Marc Baur, Projektleiter des elektrischen Torque Vectoring hinterher. Aber noch sind wir auf der Piste! Die Audianer haben als i-Tüpfelchen noch einen Handlingparcours aufgebaut. Den durcheilt der dicke Stromer mit erstaunlich direkter Progressivlenkung so gelenkig wie ein Limbotänzer. «Beim Einlenken ruhig kurz aufs Gas, bis das Heck kommt», rät mein Beifahrer, wird aber schon leicht grün im Gesicht. Ich könnte stundenlang so weitermachen, habe aber Mitleid.
Aus demselben Grund verzichte ich auch auf eine Vollbremsung, obwohl der Stromer über eine sensationelle Rekuperation verfügen soll. Bremst man aus 100 km/h voll herunter, gewinnt der e-tron S laut den Ingenieuren bis zu 270 kW Strom zurück – mehr als ein Formel-E-Rennwagen! Eine weitere Besonderheit des E-SUV ist die elektrohydraulische by-wire-Bremsanlage, bei der ein starker E-Motor für einen schnellen Druckaufbau sorgt. Das Bremssystem entscheidet situativ, ob die E-Maschine, die Radbremse oder beide zusammen zum Einsatz kommen. Bis zu 0,3 g verzögern die E-Motoren das Fahrzeug, danach erst schalten sich die hydraulischen Radbremsen zu. Serienmässig packen beim «S» schwarz lackierte Bremsbacken – vorn mit sechs Kolben – samt roter S-Raute bei den 400-Millimeter-Scheiben zu. Optional gibt's ausserdem Sättel in der Signalfarbe Orange.
Etwas geringere Reichweite
Die Kehrseite des massigen Spassmobils: Obwohl sich der e-tron S in den Fahrmodi Comfort, Auto, Allroad, Offroad oder Efficiency viel zahmer – und sparsamer – fahren lässt, dürfte die Mehrleistung für eine geringere Reichweite sorgen. Die liegt beim schwächeren e-tron mit gleich grossem Akku bei rund 400 Kilometern. Für den stärkeren Bruder gibt es noch keine genauen Angaben. Das gilt auch für den Preis des «S». Da der e-tron 55 mit 300 kW über 95 000 Franken kostet, wird er aber wohl die Schallmauer von 100 000 Franken durchbrechen. Das ist schon ein Wort – trotz der faszinierenden Technik.
Text: Michael Lux
Fotos: Audi